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Einleitung

Auf den folgenden Seiten sehen Sie die Langfassung. Es gibt auch eine Kurzversion: Gedanken zur Auslegung der Heiligen Schrift (K)


1. Die Einheit von Wahrheit und Geschichte

Weil Gott in diese Welt durch sein Wort klar und deutlich hineingesprochen hat, darum reden Menschen von ihm und glauben an ihn. Gott erweist seine Wahrheit darin, er zeigt, daß er der wahre Gott ist dadurch, daß er ins Werk setzt, was er gesprochen und zugesagt hat. Nicht das menschliche Denken, nicht eine moralische Notwendigkeit, oder das menschliche Selbstbewußtsein begründen den Glauben, sondern daß Gott sich der Welt und dem Menschen offenbart hat. Wahrheit und Geschichte gehören darum zusammen. In der Geschichte zeigt Gott seine Wahrheit. Menschen, die im Gehorsam des Glaubens Gottes Wahrheit erfahren haben, bezeugen nicht etwa ihre spekulativen Gottesvorstellungen, sondern die Verläßlichkeit Gottes und sein Wirken in ihrem Leben.

Weil der Mensch durch den Sündenfall von Gott abgefallen ist, darum benötigt er Gottes Offenbarung. Der von Gott getrennte Mensch ist darauf angewisen, daß Gott mit ihm Kontakt aufnimmt. Der Mensch ist von Gottes Reden abhängig, wenn er Gewisses über Gott erfahren will. Er besitzt keine Wahrheit als nur jene, die Gott ihm in seiner Gnade gibt. Die Alternative wäre ein Gott, der weder gebieten, verheißen noch vergeben könnte. Der Mensch hat keinen Zugang zu den Taten Gottes in der Geschichte, es sei denn durch das Wort Gottes. Ohne Gottes Erläuterung seiner Taten in der Geschichte durch verstehbare Worte sind diese für den Menschen nicht als Offenbarung zu begreifen.

Gottes Heilsgeschehen ereignet sich in Raum und Zeit. Und auch wenn historische Forschung Glauben nicht begründen und schaffen kann, so gibt es doch keinen Glauben ohne ein vorangehendes Ereignis. Gottgewirkte Geschichte ist nicht Quelle, aber Voraussetzung des Glaubens. Geschichtswahrheiten sind nicht „zufälliger“ als Vernunftwahrheiten. Wahrheit und Wirklichkeit sind nicht auseinanderzureißen. Wo die Geschichte schwärmerisch vergleichgültigt wird, gibt es auch keine Bindung mehr an das Wort. Der Glaube macht sich aber fest an der Tat Gottes. Es gibt z.B. keinen Osterglauben ohne Osterfaktum. Bedeutung gibt es nur, wenn etwas geschehen ist, das auf diese Bedeutung hinweist bzw. auf das die Bedeutung hinweist. Faktum und Kerygma, Ereignis und Deutung lassen sich nicht trennen. Geschichtlichkeit ohne Grundlage im Faktischen ist eine a - historische Konstruktion. Ohne das Wort wird das Faktum nicht zur Wahrheit. Ohne das Faktum wird das Wort zum Mythos oder zur Fabel. Faktum und Kerygma sind für den Glauben nur miteinander zu haben, oder keines von beiden.

Gott hat sich herabgelassen, sein Wort im Wort von Menschen ergehen zu lassen. Darum will er nun aber auch demütig dort gefunden werden, wo biblische Autoren ganz menschlich von ihm gesprochen haben, nicht etwa dahinter oder jenseits davon in allgemeinen Vernunftwahrheiten oder abstrakten Gottesvorstellungen. Gott in seiner Herablassung und Anpassung an den Menschen gebraucht gerade endliche, zeitliche, zufällige Geschichtswahrheiten zum Transport seiner Offenbarung. Und seine Offenbarung besteht nicht nur aus subjektiven, pluralisierbaren Wertaussagen, sekundären Glaubensinterpretationen eines angeblichen Geschichtshandelns Gottes, sondern sie besteht aus Aussagen, die sich auf die ganze Wirklichkeit der Welt und des Lebens erstrecken. Für das biblische Wahrheitsverständnis gibt es keine Trennung von Sein und Wert. Was Wert haben will, muß wahr d.h. richtig und zuverläassig sein. Was unwahr, d.h. falsch und irreführend ist, hat keinen Wert. Verläßlich kann nur sein, was der Wirklichkeit entspricht bzw. ihr voll gerecht wird.

Das Einzelne der Geschichte und darum auch eine geschichtliche Heilige Schrift ist durch ihre Geschichtlichkeit nicht von vornherein individualistisch relativiert, sondern unter Berücksichtigung der Analogie der Inkarnation durchaus wahrheitsfähig. Weil sich Erkenntnis grundsätzlich in der Begegnung ereignet und selbst im Bereich der Naturwissenschaft in einer Art Glaubensbindung gründet, darum ist Wahrheit nie anders als geschichtlich konkrete, sprachliche und in einem persönlichen Bekenntnis ausgedrückte zu haben.

Die Kapazität der menschlichen Sprache im Hinblick auf den Transport von Offfenbarung ist nicht zu gering zu veranschlagen. Menschliche Sprache ist auf dem Hintergrund der Analogie der Inkarnation keineswegs unfähig und ungeeignet, Offenbarung zu vermitteln, denn Gott selbst gebraucht Sprache, um das Unaussagbare auszusagen. Insofern Gott sich in seiner Offenbarung an den Menschen als sein Ebenbild richtet und dessen Sprache gebraucht, wird das Gotteswort, ohne seine Eigenart zu verlieren, zum Menschenwort. Die Sprache des Menschen muß Wahrheit nicht notwendigerweise verzerren, sondern kann tatsächlich Wahrheit ohne Irrtum mitteilen. Weil Gott spricht, ist der biblische Wahrheitsbegriff keineswegs nur existentieller und praktischer Natur. Denn informative Sprache setzt Wahrheit auch im Sinne von Richtigkeit voraus. Allerdings müssen Gültigkeit und Wahrheit nicht identisch sein. Die Bibel enthält Aussagen, die heute nicht mehr gültig d.h. ethisch bindend sind, die aber dennoch wahr sind in dem Sinn, daß sie göttlichen Ursprungs und historischen Charakters sind.;


2. Die Einheit von Offenbarung und Zeugnis der Offenbarung

Der dynamische Ereignischarakter des Wortes Gottes, das geschieht, tendiert selbst, keineswegs in einer Erstarrung, sondern konsequent zu schriftlicher Fixierung, damit das flüchtig ausgesprochene Wort Dauer und Objektivität erhält. Die Offenbarung Gottes begegnet in zweierlei Gestalt: Jesus Christus ist das Menschenpersönlichkeit gewordene Wort Gottes, die individuelle Offenbarung Gottes innerhalb der Menschheit, das persönliche Wort Gottes. Und die Heilige Schrift ist das geschriebene Wort Gottes, die durch die Sprache vermittelte Wort - Offenbarung Gottes innerhalb der Menschheit. Gottes Wort geschieht nicht nur, es ist auch. Das Ineinander von verkündigter und geschriebener Gestalt der Offenbarung läßt es nicht zu, in der Bibel lediglich ein Zeugnis von der Offenbarung, die nur gebrochen in sie eingehen konnte, zu sehen, und das Eigentliche der Bibel hinter ihr zu suchen.

Was die Schrift sagt, sagt Gott. Was in den Worten der Schreiber zum Ausdruck kommt, ist genau das, was Gott in und durch die Schrift mitteilen will. Die Bibel als geschriebenes Wort ist in ihrer Ganzheit die von Gott gegebene Offenbarung. Die Gleichsetzung von Bibel und Wort Gottes darf jedoch nicht im Sinn einer umkehrbaren mathematischen Gleichung verstanden werden. Das Wort Gottes ist nicht die Bibel, denn Gottes Offenbarung ist umfassender als die Schrift. Aber die Bibel ist auch nicht nur ein Zeugnis der Offenbarung und wird auch nicht erst in der Begegnung und durch die menschliche Annahme zur Offenbarung. Die Bibel sagt, was Gott sagt. Eine fehlerhafte Bibel kann auch keine besonders beeindruckende personale Wahrheit mehr vermitteln. Und wenn die Bibel nur mehr menschlicher Bericht subjektiver Gotteserfahrungen sein darf, dann ist kaum mehr zu begründen, warum und in welcher Weise sie heute eine neue Begegnung mit Gott auslösen soll.


3. Die Einheit von Erniedrigung und Herrlichkeit Gottes

Der Gegensatz von Vergöttlichung der Bibel und Entmenschlichung ihrer Aussagen auf der einen Seite und Vermenschlichung der Bibel und Entgöttlichung ihrer Aussagen auf der anderen Seite ist durch den Gott, der selbst ein Schriftsteller wurde, überwunden. Ein Gottesstandpunkt, der die Wahrheit hinter bzw. über der Offenbarungsgeschichte sucht, entspricht weder der Inkarnation Gottes noch der Geschichtlichkeit und Geschöpflichkeit des Menschen. Auf diesem Gottestandpunkt erkennt sich der Mensch selbst nicht mehr als zeitbedingt und zeitbezogen, bleibt im eigenen Horizont gefangen und macht sich selbst zum Kriterium dessen, was ihm gesagt werden darf. Gottes Wort verkommt dann zu einem Wort, das sich der Mensch ohne die Offenbarung Gottes auch selber sagen kann. Wenn das Rederecht dessen, was als Offenbarung begegnet, aus prinzipiellen Gründen von vornherein eingeschränkt wird, muß aus der Begegnung automatisch eine Entgegnung werden.

Die Inkarnation des Gottessohnes und die Schriftwerdung der Offenbarung des Gottesgeistes entsprechen einander. Genauso wie der ewige Gottessohn sich in Jesus von Nazareth inkarniert, so erniedrigt und inverbiert sich der Heilige Geist im Wort der Heiligen Schrift. Es besteht eine Analogie zwischen der göttlich - menschlichen Wesensart Jesu und der göttlich - menschlichen Wesensart der Bibel. Jesu Geschichte offenbart, daß er umsomehr Mensch ist, je mehr er Gott ist, und umsomehr Gott, je mehr er Mensch ist. Aber wie bei der Entäußerung in die Knechtsgestalt des Menschseins Christus nicht in das Irren, Fehlen und Sündigen der gefallenen Menschen eingegangen ist, ebenso hat auch die Entäußerung des Gotteswortes in die Knechtsgestalt des biblischen Menschenwortes nicht ein unzuverlässiges, unsicheres und irrendes Gotteswort erzeugt, sondern gerade mitten in einer der gefallenen Menschheit verhafteten Denk- und Ausdrucksweise ewiges Leben schenkende, vertrauenswürdige Heilswahrheit offenbart.

Die Knechtsgestalt der Heiligen Schrift ist gerade ihre Herrlicheit. In ihrer Niedrigkeit offenbart sich die Herrlichkeit der Herablassung Gottes, der anstößig für die menschliche Vernunft die Niedrigkeit menschlicher Worte erwählt, um genau damit der Welt sein göttliches Wort zu sagen. Es macht die Einheit der Offenbarung aus, daß Gott sich erniedrigt und herabläßt. Zur zeitlichen Geschichtswahrheit, in der Gott sich bekannt gemacht hat, gehört die niedrige Gestalt des Buches, das diese Wahrheit bezeugt.Gott tritt in der Knechtsgestalt des Sohnes, aber auch mit dem in der Schrift verkleideten, verhüllten göttlichen Wort vor die Welt, weil nur durch ein Werk der Demut und Herablassung Gottes, der Stolz des Menschen überwunden, und der Mensch für Gott gewonnen wird.


4. Die Einheit von Menschenwort und Gotteswort

Das Wort Gottes, wie es im menschlichen Wort der Bibel überliefert ist, ist kein an die begrenzten Fähigkeiten des Menschen angepaßtes Wort und daher uneigentliches Wort des eigentlich geistigen Gottes. Das Wort Gottes ist auch nicht im Menschenwort enthalten und nach irgendeinem moralischen, existentialen oder christologischen Maßstab und Kanon im Kanon aus dem Menschenwort erst herauszuinterpretieren, sondern das Menschenwort der Bibel ist das Gotteswort in seiner Knechtsgestalt. Nicht anders als mit der Niedrigkeit der Heiligen Schrift will Gott reden, so wie er auch mit seinem in allem außer der Sünde dem Menschen gleichgewordenen Sohn zuverlässig und letztgültig in die Welt hineingesprochen hat.

Schriftverständnis und Christusverständnis hängen zusammen. Die Bezeichnungen des Bekenntnisses von Chalcedon von 451 n. Chr. für Christus, die keine positiven Aussagen sind, weil das Geheimnis seiner Person eben nicht in den Griff zu bekommen ist, sind auf die Heilige Schrift übertragbar: Unvermischt und unwandelbar. D.h. die göttliche Natur verwandelt die menschliche Natur nicht in eine göttliche. Ungeschieden und untrennbar. D.h. es gibt bei den beiden Naturen nichts auseinander zu dividieren. Christus und die Schrift sind nur ganz menschlich und ganz göttlich zu haben, oder gar nicht. Bei der Gestaltwerdung der biblischen Offenbarung haben sich Gotteswort und Menschenwort grundsätzlich unlösbar ineinander verschlungen. Die durch den Heiligen Geist gestaltete und von Menschen verfaßte Schrift stellt sich deshalb als etwas Einheitliches und Ganzes dar, und bietet selbst keinen Schlüssel zur Zerlegung in verschiedene Schichten. Wie Jesus Christus wahrer Gott und wahrer Mensch ist, aber nicht in zwei Personen zerlegbar, sondern indem er Gottes Sohn bleibt, so ist die Heilige Schrift Gotteswort und Menschenwort zugleich, aber nicht in zwei Worte zerlegbar, sondern indem sie schließlich und endlich Gottes Wort bleibt.

Gerade weil das Wort von Christus die Mitte der Schrift ist, läßt diese Mitte sich nicht aus dem Ganzen der Schrift herausfiltern, denn in irgendeinem Bezug zur Mitte steht jede Schriftstelle. Insofern kann sich die Mitte der Schrift nur der Wahr - nehmung der ganzen Schrift verdanken. Die Kritik an einer Stelle der Schrift bedeutet darum auch Kritik an ihrer Mitte. Denn die Mitte ergibt sich immer nachträglich und sekundär abgeleitet vom Ganzen der Schrift inklusive den sogenannten Rändern und Schalen. In soteriologischer Hinsicht ist Christus von primärer und die Schrift von sekundärer Bedeutung. Aber in erkenntnistheoretischer Hinsicht ist die Schrift primär, denn ohne die Bibel wissen wir so gut wie nichts von Jesus. Ein Kanon im Kanon setzt willkürlich Überlieferungen absolut, die nur in den innigsten Bezügen und Abhängigkeiten zu anderen verstanden werden wollen. Es wird eine Mitte der Schrift als Ersatz für ihre Einheit konstruiert. Jesu Praxis und Lehre erlauben es jedoch nicht, die Schrift und den Christus als einen Gegensatz aufzufassen.


5. Die Einheit von Menschlichkeit, Geschichtlichkeit und Inspiration

Die volle Menschlichkeit und Geschichtlichkeit des biblischen Wortes und seine Inspiration schließen einander nicht aus. Weder muß die Inspirationslehre aufgegeben werden, noch muß die Menschlichkeit und Geschichtlichkeit der Bibel ignoriert werden. Vielmehr hat Gott Menschen mit ihren Gaben und Eigenarten, aber auch mit ihren Beschränktheiten und Schwächen in einer jeweils ganz bestimmten geschichtlichen Situation seines Wirkens dazu erwählt und durch seinen Geist befähigt, sein Wort zu sagen. Das Menschliche und Geschichtliche an ihrem Wort wird von Gott gerade nicht ausgeschaltet, sondern bejaht und in Dienst genommen. Menschlichkeit, Geschichtlichkeit und Inspiration des Heiligen Geistes gehören im biblischen Wort unlösbar zusammen und bezeugen damit wiederum die Herablassung Gottes.

Der einzigartigen und einmaligen heilsgeschichtlichen Tatsache der Menschwerdung des ewigen Got- tessohnes entspricht die einzigartige und einmalige heilsgeschichtliche Tatsachenübermittlung der Augen- und Ohrenzeugen Jesu (Gal. 2, 7 Hebr. 13, 7 1. Petr. 1, 12). Und nicht das ist die Frage, ob die Schriften der Bibel nach ihrem Selbstzeugnis inspiriert sind, sondern, was gemeint ist mit dem Begriff „Inspiration“ (vgl. 2. Tim. 3, 16 2. Petr. 1, 21). Die Inspiration der biblischen Autoren ist nicht nur Personalinspiration, auch nicht nur Realinspiration, sondern als Verbalinspiration (Mt. 5, 17f Joh. 10, 35) vor allem Ganzinspiration im Sinn einer Inverbation des Heiligen Geistes als Analogie der Inkarnation Christi. Solche Ganzinspiration ist auf den Urtext bezogen, darf nicht mechanisch als Diktatinspiration mißverstanden werden und führt deshalb nicht zu einer atomistischen Betrachtungsweise der Bibel, weil diese keinen Kodex verfügbarer Wahrheiten darstellt, die zu gebrauchen wären wie mathematische Formeln. Ein derartiger Offenbarungsrationalismus, der durch bestimmte Zusammenstellungen stets griffbereite, ewige Wahrheiten eruiert, übersieht, daß die Schriftautorität zuerst die Personautorität des in der Bibel redenden Gottes ist. Die Betonung der Ganzinspiration bedeutet nicht, daß jeder Text der Bibel das gleiche Gewicht hat und schließt die Bejahung fortschreitender, progressiver und kumulativer Offenbarung ein. Die Plenarinspiration bekräftigt lediglich, daß jedes Wort der Schrift vorhanden ist, weil Gott es gewollt hat.

Ganzinspiration meint, daß es gerade die konkrete biblische Offenbarung ist, die Gottes Geist geschaffen hat. Gottes Anrede ist eben nicht auch anderswo zu finden. Gottes Wort läßt sich darum nicht besser ausdrücken, als es in der Heiligen Schrift geschehen ist (1. Thess. 2, 13 1. Kor. 2, 13). Weil die Schreiber der Bibel im Hinblick auf ihren Stoff und die Art und Weise, ihn darzubieten, inspiriert waren, darum sind ihre Schriften vollkommen verläßlich, verbindlich, wirksam, klar, deutlich und ausreichend für die Wegweisung des Menschen zum rettenden Heil.

„Sacra scriptura est per sese certissima, facillima, apertissima, sui ipsius interpres, omnia probans, iudicans et illuminans.“ (M. Luther in der Assertio omnium articulorum WA VII, 97: „Die Heilige Schrift ist in sich selbst ganz gewiß, einfach, offen, legt sich selbst aus, billigt, richtet und erleuchtet alles.“) Luthers perspicuitas (Durchsichtigkeit) und claritas (Klarheit) der Schrift ergibt sich aus ihrer Ganzinspiration und bedeutet nicht nur die besondere Beachtung des Literalsinnes, sondern auch ihre prinzipielle Vorordnung vor den menschlichen Ausleger.

M. Luther hat sein Schriftverständnis nie prinzipiell programmatisch und systematisch dargelegt. Aber es war zu seiner Zeit auch noch nicht umstritten. Luther setzt grundsätzlich die Inspiriertheit der Heiligen Schrift voraus. Sie ist „des heiligen geists eigen, sonderlich buch, schrift und wort.“ (WA 38, 340 vgl. WA 54, 3.474)

Der Heilige Geist redet nicht nur in den zentralen Aussagen der Schrift, sondern auch in ihren sprachlichen Eigentümlichkeiten (WA 40, III, 254: „Denn nicht nur die Vokabeln, sondern auch die Diktion ist göttlich.“) Deshalb ist Wort Gottes und Heilige Schrift für Luther identisch. Der Buchstabe der Schrift ist auch und gerade in seiner Äußerlichkeit Gottes Wort, da das Wort des Geistes zuerst und vor allem im „verbum externum“ zum Ausdruck kommt. So kann Luther sagen: „Die heilige Schrift ist Gottes Wort, geschrieben und (das ich so rede) gebuchstabet und im buchstaben gebildet, gleich wie Christus ist das ewige Gottes wort, in die Menschheit verhuellet.“ (WA 48, 31)

Bei Luther ist die Inspiration mit der Irrtumslosigkeit der Schrift verbunden. Er bekräftigt die Autorität des „verbum Dei infallibile (des unfehlbaren Wortes Gottes).“ (WA 2, 279) Immer wieder hält er an der einzelnen Vokabel fest: „denn wer ein eintzel Gottes wort veracht, der achtet freylich auch keines nicht gros.“ (WA 26, 450) Die menschlichen Schreiber des Wortes Gottes sind infolge ihrer Inspiriertheit „infallibiles doctores (unfehlbare Lehrer).“ (WA 40, I, 173f) Eine direkte Folge der Inspiration ist die Klarheit der Schrift. Dunkelheiten liegen nicht im Bereich der Sache, sondern der Sprache und des kognitiven Verstehens. Die dunklen Stellen sind aus dem Vergleich mit den hellen zu deuten. Wenn man akzeptiert, daß die Bibel Gottes Wort ist, dann steht nicht die Frage im Mittelpunkt, wie wahrscheinlich die Lösung ist für Fragen, die angebliche Irrtümer der Bibel aufwerfen, sondern dann wird die Wahrscheinlichkeit der vorgeschlagenen Lösung gegen die Wahrscheinlichkeit abgewägt, daß Gott etwas Falsches gesagt hat. Die mangelnde Sichtbarkeit der Stimmigkeit von Bibeltexten spricht noch nicht automatisch gegen die Realität dieser Stimmigkeit.

Die äußere Klarheit ist von Gott in das Wort der Schrift selbst und in die auf ihr gegründete Verkündigung gelegt. Die innere Klarheit ereignet sich im Herzen dessen, der das Wort im Glauben aufnimmt. und wird als clarificatio scripturae durch den Heiligen Geist geschenkt. Die äußere Klarheit als einsichtige Evidenz hat den Vorrang vor der inneren. Die Tatsache, daß für Luther in der Bibel die viva vox evangelii gehört wird, besagt nicht, daß er den Wortlaut der Bibel als fehlbar ansah. „Es muß unter Christen als vollkommen verbürgt und sicher gelten, daß die Heilige Schrift ein geistliches Licht ist, viel klarer als die Sonne selbst.“ (WA 18, 653) Die Leugnung der Klarheit der Schrift führt automatisch zur Preisgabe des sola scriptura. Wenn die Bibel nicht in sich selbst klar und verständlich ist, benötigt man für eine adäquate Auslegung eine andere, höhere Autorität.

In der heilsgeschichtlichen Linie von Verheißung und Erfüllung ist Jesus Christus zeitlich gesehen die Mitte der Schrift. Davon ging Luther aus, als er das Prinzip „was Christum treibet“ aufstellte und anwandte. Aber dieses Prinzip ist nicht als kritisches Skalpell anzuwenden, um mit seiner Hilfe eine reduktorische Zensur durchzuführen. Die christozentrische Konzentration ist die hermeneutische Richtschnur für die Interpretation der in der Bibel als Einheit gegebenen Offenbarungsgeschichte. Luther war davon überzeugt, daß die ganze Schrift von Christus handelt. H. Bornkamm hat das durch seine Studie „Luther und das Alte Testament“, Tübingen 1948 bestätigt. Er hat also nicht nur die ausdrücklich christologischen Teile der Schrift für verbindlich und unfehlbar gehalten. Vgl. H. Sasse, Was sagt uns Luther über die Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift? 1950 S. 314: „Der Satz von der absoluten Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift auch in Dingen, die den Glauben nicht berühren, scheint an Luther einen eindrucksvollen und autoritativen Vertreter zu haben. Es ist nicht schwer nachzuweisen, daß er sich auch für die Richtigkeit der historischen Angaben der Bibel auf die unbedingte Glaubwürdigkeit der Heiligen Schift als des wahrhaftigen, unfehlbaren Gotteswortes berufen hat.“

Die Kanonisierung der biblischen Schriften ist als letzte Stufe der Inspiration anzusehen. Der Kanon ist kein Produkt der Kirche, sondern ein Produkt desselben göttlichen Geistes, der die einzelnen Schriften hervorgebracht hat. Insofern wurde der Kanon nicht von Menschenhand geschaffen, sondern nur von solcher anerkannt. Die Begründung der Schriftautorität geschieht durch die Schrift selbst. Konsequenz solcher Schriftautorität ist, daß die Schrift einzige norma normans (normierende Norm) sein will für das Hören auf Gott, für das Gehören zu Gott und den Gehorsam des Menschen gegenüber Gott. Die Kirche hat die Bibel entweder als ganzheitliche Richtschnur, oder sie hat überhaupt keine Richtschnur mehr. Wenn in der Bibel nur gewöhnliche Menschen reden, dann ist auch Christus keine wirkliche Autorität mehr.


6. Die Einheit von Form und Inhalt

Das biblische Wort kann nicht nach Form und Inhalt auseinanderdividiert werden, so als ob etwa  das unveränderliche Wort Gottes als sogenannter Sachinhalt von seiner historischen Einkleidung abgesetzt werden könnte, oder die überzeitliche Botschaft aus ihrem zeitbedingten Rahmen herauslösbar wäre. Die Eigenart der biblischen Sprache gibt auch die Eigenart der biblischen Offenbarung wieder. Die Form ist daher weder beliebig noch austauschbar, sondern ergibt sich aus der Sache. Wer die Form preisgibt, verliert damit auch den Inhalt. Aussage und Aussageform, Sache und sprachlicher Ausdruck bilden in der Bibel eine unauflösliche Einheit. Worte und Begriffe der Bibel sind wohl formal der zeitgenössischen Umwelt entnommen, aber nicht allein von dieser aus zu verstehen.

Form und Inhalt werden im Blick auf die Herkunft der Schrift nicht unterschieden: Das Wort Gottes kommt in den Worten der Schrift.Alle Bestandteile der Schrift werden auf das Wirken Gottes zurückgeführt. Es ist nicht möglich, die Schrift in einen theologisch - ethischen (geistlichen) und einen historisch - naturwissenschaftlichen (natürlichen) Bestandteil zu zerlegen. Die Trennung von Bibeltext und Inhalt dieses Textes ist auch deshalb unberechtigt, weil sie der Heiligen Schrift selbst fremd ist und von der Willkür menschlicher Analyse, die ein authentisches Offenbarungswort herausdestillieren soll, abhängt. Die Bibel ist nicht nur Katalysator der Offenbarung, sondern göttliche Offenbarung selbst. Wenn die Bibel Offenbarung lediglich enthält, ist am Ende immer und unausweichlich das subjektive Wahrheits- und Glaubensverständnis des Auslegers die begründende und regulierende Norm und Autorität dessen, was zu glauben ist.


7. Die Einheit von wissenschaftlicher Erforschung und Demut des Herzens

Der Einheit von Menschenwort und Gotteswort, bzw. der Einheit von Menschlichkeit, Geschichtlichkeit und Inspiration angemessen ist eine wissenschaftliche Erforschung der heiligen Schrift, die in uneingeschränkter Offenheit sich müht, die Besonderheit, ja Einzigartigkeit der Bibel zu sehen und zu achten. Solche Schriftforschung ist offen, die ganze Menschlichkeit d.h. auch Begrenztheit sowie die Geschichtlichkeit der Bibel mit allen erkennbaren Überlieferungsprozessen wahrzunehmen. Genauso offen ist solche Schriftforschung aber auch, die Göttlichkeit der Bibel vor allem im Hinblick auf das in ihr bezeugte Reden und Handeln Gottes und ihre Heiligkeit als Heiligkeit der Zeugen, die aus der erfahrenen Nähe Gottes kommen und reden, zu erkennen, soweit dies eben erkennbar ist. Zur Bibel paßt nur eine Arbeit, die nicht mit einer von ganz anderen, ihr fremden oder gar gegensätzlichen Prämissen diktierten Methodik an sie herantritt. Historisch - philologische Exegese ist von dem allein durch den Heiligen Geist gegebenen geistlichen Verständnis der Heiligen Schrift nicht zu trennen. Beides gelingt nur in einer tiefen Achtung vor der Herablassung Gottes. Solche Achtung gehört mit zu den Voraussetzungen wissenschaftlicher Erforschung der Bibel.

Die historisch - kritische Methode ist nicht einfach unbesehen zur einzigen theologischen Arbeitsmethoden zu erheben. Sie ist Engführungen der Aufklärung verhaftet, die immer mehr überwunden werden. Wahr ist eben nicht nur, was sich der Mensch vorstellen kann. Das menschliche Bewußtsein ist nicht autonom, sondern bestimmt durch historische Ereignisse. Das Geschehnis prägt das Verstehen und nicht umgekehrt. Die offene Frage und nicht etwa die Kritik ist als Grundbewegung des Denkens erkannt und führt nicht nur zu grundsätzlicher Offenheit auch gegenüber Offenbarung, sondern letztlich zu einer vorkritischen exegetischen Tradition (vgl. B. S. Childs, Biblical Theology in Crisis, Philadelphia 1970, S. 139ff). Diese hat eine historische Auslegung der Bibel lange bevor es eine historische Kritik gab praktiziert und Kritik als unterscheidende Wahrnehmung z.B. in Form von Textkritik bereits vor der Aufklärung geübt. Diese Kritik war jedoch keine Sachkritik, sondern Auslegung. Sachkritik ist keine Auslegung mehr, weil sie die Aussagerichtung und den spezifischen Zweck eines Textes verändert.

Das methodische Mißtrauen, das der historischen Kritik eigen ist, steht in deutlichem Gegensatz zur Vertrauensbemühung der Offenbarung. Kritik verhindert so die notwendige Offfenheit der Auslegung und erst recht den Vertrauensvorschuß, den die Theologie dieser Offenbarung aufgrund ihrer Wirkungsgeschichte schuldet. Eine ent - scheidende Beurteilung dessen, was Offenbarung ist und was nicht, kann auf der geschöpflichen Ebene nicht mit Gewißheit stattfinden. Diese Gewißheit entsteht erst in der Begegnung mit Gott, also durch die Offenbarung Gottes selbst, nicht aber losgelöst von ihr. Auf der geistlichen Ebene ist solche Entscheidung ebenfalls unmöglich, weil sowohl die Offenbarung selbst, als auch der Heilige Geist in der Gemeinde die Echtheit und Ganzheit der Offenbarung bezeugen.

Wenn uneingeschränktes Vertrauen der Grundvorgang zwischen Mensch und Gott ist, dann kann und darf Gottes Reden nicht aus diesem Grundvorgang ausgeklammert werden. Zu einer Sachkritik könnte es darum nur kommen nach Ablegung jeglichen Vorurteils, was unmöglich ist, und dann, wenn die Offenbarung selbst zu Sachkritik anleitet. Das geschieht aber nur dem Vorurteil des Auslegers gegenüber und gerade nicht innerhalb der Schrift. Eine Anleitung aus der Schrift, Schrift mit Schrift abzulehnen, gibt es nirgends. Darum war z.B. für Luther die Bibel „tatsächlich das Wort Gottes selbst.“ (F. Beißer, Claritas scripturae bei Martin Luther, Göttingen 1966, S. 180 vgl. WA V, 184)

Weil die Geschichte der Bibelkritik zum Gericht der Bibelkritik wurde, ist die historisch - kritische Methode von ihrem Gegenstand, der Bibel her zu korrigieren. Weil jede Wissenschaft sich nach ihrem Gegenstand zu richten hat, und nicht etwa umgekehrt, darum ist eine Hermeneutik des Vernehmens zu entwickeln, in der das Ineinander von Gotteswort und Menschenwort, die Inspiration der ganzen Schrift, die Einheit der Schrift, die Notwendigkeit einer Theologia regenitorum (Theologie der Wiedergeborenen) und der Bezug zur Kirchengeschichte und zur Situation der Gemeinde heute berücksichtigt werden. Solche Hermeneutik des Vernehmens kann sich auf die Beobachtung eines gepflegten biblischen Traditonskontinuums stützen, aufgrund dessen eine anonyme, schöpferische Gemeindebildung von Texten nicht mehr bemüht werden muß. Solche Hermeneutik garantiert allerdings weder die Unfehlbarkeit einer bestimmten Interpretation noch die Unfehlbarkeit des Auslegers.

Aus der Begegnung mit Gott resultierendes Vertrauen, das persönlich betrifft, und die Anerkennung einer formalen Autorität der Schrift schließen einander nicht aus. Im Blick auf die Basis des Glaubens sind das Vertrauen zu Jesus Christus und die Akzeptanz der Offenbarungsqualität der Schrift keine Alternativen. Beides läßt sich nicht voneinander trennen. Von der Offenbarungsqualität der Heiligen Schrift auszugehen, ist kein unwissenschaftlicher Deduktivismus, weil auch induktive Schlüsse von nicht hinterfragbaren Denkvoraussetzungen abhängen und genau wie deduktive Schlüsse bewährt werden müssen.

Geschichte ist der umfassendste Horizont christlicher Theologie. Geschichte ist das, was Gott mit der Menschheit und durch sie mit seiner ganzen Schöpfung hat. Es gibt im Sinn der Bibel keine profane, keine gott - los verlaufende Geschichte. Geschichte ist das zwischen Verheißung und Erfüllung hineingespannte Geschehen, das durch die Verheißung eine unumkehrbare Zielrichtung auf künftige Erfüllung hin erhält. Verheißung gibt dem anschließenden Ablauf historischer Ereignisse einen Zusammenhang, öffnet das Bewußtsein für den Fortgang und das Ziel des Geschehens und nötigt zur Beobachtung des Geschickes, das dieses Wort erfährt. Weil Gottes Handeln, durch das er seinen auf Erlösung und Vollendung zielenden Heilswillen verwirklicht, unausgrenzbar in die Gesamtgeschichte hineinverflochten ist, darum empfiehlt sich eine heilsgeschichtliche Auslegung der Schrift. Diese rechnet damit, nicht nur dem Geschichts- und Selbstverständnis der biblischen Zeugen, sondern dem sich in der Geschichte bezeugenden Gott selbst zu begegnen.

Gottes Offenbarung geschieht in der Geschichte. Da die Geschichte fortschreitet, schreitet auch die Offenbarung fort. Dabei sagt Gott in den verschiedenen Ordnungen der Heilsgeschichte nicht immer dasselbe. Er läßt eine Epoche so aus der anderen wachstümlich hervorgehen. Heilsgeschichtliche Schriftauslegung ist historische Auslegung. Göttliche Inspiration und historische Forschung schließen einander nämlich nicht aus. Richtig verstandene geschichtliche Forschung ist kein Gegner der Offenbarungstheologie, sondern ihre Folge. Die ganze Schöpfung wird miteinbezogen. Dadurch bleibt die Gesprächsfähigkeit mit anderen Wissenschaften erhalten.

Aufgrund der Berücksichtigung von Bundesschließungen, Ökonomien, Stadien, Lücken und Selektionen im Ablauf der Heilsgeschichte müssen die biblischen Texte nicht plan gelesen werden. Die Beachtung der Frage, wohin Texte der Bibel unterwegs sind, bzw. woher sie kommen, führt zu einer differenzierten Sicht, die biblische Texte jedoch nicht aussortiert, sondern in den Gesamtzusammenhang der Heilsgeschichte einordnet. Die Gewichtung von Texten erfolgt dabei nach innerbiblischen Maßstäben und nicht nach vorgefaßten und von außen an die Bibel herangetragenen Prinzipien. Ort und Zeit aller Schriftstellen können ernstgenommen werden. Der Ausleger muß nicht Schulmeister und Schiedsrichter für biblische Aussagen sein. Derselbe Jesus, der z.B. auf die Nähe des Gottesreiches hinwies, gründete auch die Kirche. Im dynamischen und kontingenten Fortgang der Heilsgeschichte kann jeder biblische Autor sein vollständiges Rederecht behalten.

Eine heilsgeschichtliche Schriftauslegung setzt nicht voraus, daß nur das von den alttestamentlichen Geboten für die Christenheit verbindlich ist, was davon auch im NT steht. Dadurch würde das AT überflüssig. Heilsgeschichtliche Schriftauslegung will durch die Wahrnehmung der ganzen Schrift Weiterentwicklungen im Fortgang der Offenbarung erkennen und keineswegs nur Restbestände des AT ins NT hinüberretten. Zwar liefert die Übernahme alttestamentlicher Weisung durch das NT einen Anhaltspunkt, aber die Richtung der Heilsgeschichte wird eher durch das Gegenteil, das nicht unbedingt dieselben Themen betreffen muß, erkennbar, nämlich durch das, was aus dem AT nicht ins NT übernommen wird.

Pfarrer Manfred Otto Heuchert, Dr. Harald Höger, Pfarrer Andreas Gripentrog