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7. Die Einheit von wissenschaftlicher Erforschung und Demut des Herzens

Der Einheit von Menschenwort und Gotteswort, bzw. der Einheit von Menschlichkeit, Geschichtlichkeit und Inspiration angemessen ist eine wissenschaftliche Erforschung der heiligen Schrift, die in uneingeschränkter Offenheit sich müht, die Besonderheit, ja Einzigartigkeit der Bibel zu sehen und zu achten. Solche Schriftforschung ist offen, die ganze Menschlichkeit d.h. auch Begrenztheit sowie die Geschichtlichkeit der Bibel mit allen erkennbaren Überlieferungsprozessen wahrzunehmen. Genauso offen ist solche Schriftforschung aber auch, die Göttlichkeit der Bibel vor allem im Hinblick auf das in ihr bezeugte Reden und Handeln Gottes und ihre Heiligkeit als Heiligkeit der Zeugen, die aus der erfahrenen Nähe Gottes kommen und reden, zu erkennen, soweit dies eben erkennbar ist. Zur Bibel paßt nur eine Arbeit, die nicht mit einer von ganz anderen, ihr fremden oder gar gegensätzlichen Prämissen diktierten Methodik an sie herantritt. Historisch - philologische Exegese ist von dem allein durch den Heiligen Geist gegebenen geistlichen Verständnis der Heiligen Schrift nicht zu trennen. Beides gelingt nur in einer tiefen Achtung vor der Herablassung Gottes. Solche Achtung gehört mit zu den Voraussetzungen wissenschaftlicher Erforschung der Bibel.

Die historisch - kritische Methode ist nicht einfach unbesehen zur einzigen theologischen Arbeitsmethoden zu erheben. Sie ist Engführungen der Aufklärung verhaftet, die immer mehr überwunden werden. Wahr ist eben nicht nur, was sich der Mensch vorstellen kann. Das menschliche Bewußtsein ist nicht autonom, sondern bestimmt durch historische Ereignisse. Das Geschehnis prägt das Verstehen und nicht umgekehrt. Die offene Frage und nicht etwa die Kritik ist als Grundbewegung des Denkens erkannt und führt nicht nur zu grundsätzlicher Offenheit auch gegenüber Offenbarung, sondern letztlich zu einer vorkritischen exegetischen Tradition (vgl. B. S. Childs, Biblical Theology in Crisis, Philadelphia 1970, S. 139ff). Diese hat eine historische Auslegung der Bibel lange bevor es eine historische Kritik gab praktiziert und Kritik als unterscheidende Wahrnehmung z.B. in Form von Textkritik bereits vor der Aufklärung geübt. Diese Kritik war jedoch keine Sachkritik, sondern Auslegung. Sachkritik ist keine Auslegung mehr, weil sie die Aussagerichtung und den spezifischen Zweck eines Textes verändert.

Das methodische Mißtrauen, das der historischen Kritik eigen ist, steht in deutlichem Gegensatz zur Vertrauensbemühung der Offenbarung. Kritik verhindert so die notwendige Offfenheit der Auslegung und erst recht den Vertrauensvorschuß, den die Theologie dieser Offenbarung aufgrund ihrer Wirkungsgeschichte schuldet. Eine ent - scheidende Beurteilung dessen, was Offenbarung ist und was nicht, kann auf der geschöpflichen Ebene nicht mit Gewißheit stattfinden. Diese Gewißheit entsteht erst in der Begegnung mit Gott, also durch die Offenbarung Gottes selbst, nicht aber losgelöst von ihr. Auf der geistlichen Ebene ist solche Entscheidung ebenfalls unmöglich, weil sowohl die Offenbarung selbst, als auch der Heilige Geist in der Gemeinde die Echtheit und Ganzheit der Offenbarung bezeugen.

Wenn uneingeschränktes Vertrauen der Grundvorgang zwischen Mensch und Gott ist, dann kann und darf Gottes Reden nicht aus diesem Grundvorgang ausgeklammert werden. Zu einer Sachkritik könnte es darum nur kommen nach Ablegung jeglichen Vorurteils, was unmöglich ist, und dann, wenn die Offenbarung selbst zu Sachkritik anleitet. Das geschieht aber nur dem Vorurteil des Auslegers gegenüber und gerade nicht innerhalb der Schrift. Eine Anleitung aus der Schrift, Schrift mit Schrift abzulehnen, gibt es nirgends. Darum war z.B. für Luther die Bibel „tatsächlich das Wort Gottes selbst.“ (F. Beißer, Claritas scripturae bei Martin Luther, Göttingen 1966, S. 180 vgl. WA V, 184)

Weil die Geschichte der Bibelkritik zum Gericht der Bibelkritik wurde, ist die historisch - kritische Methode von ihrem Gegenstand, der Bibel her zu korrigieren. Weil jede Wissenschaft sich nach ihrem Gegenstand zu richten hat, und nicht etwa umgekehrt, darum ist eine Hermeneutik des Vernehmens zu entwickeln, in der das Ineinander von Gotteswort und Menschenwort, die Inspiration der ganzen Schrift, die Einheit der Schrift, die Notwendigkeit einer Theologia regenitorum (Theologie der Wiedergeborenen) und der Bezug zur Kirchengeschichte und zur Situation der Gemeinde heute berücksichtigt werden. Solche Hermeneutik des Vernehmens kann sich auf die Beobachtung eines gepflegten biblischen Traditonskontinuums stützen, aufgrund dessen eine anonyme, schöpferische Gemeindebildung von Texten nicht mehr bemüht werden muß. Solche Hermeneutik garantiert allerdings weder die Unfehlbarkeit einer bestimmten Interpretation noch die Unfehlbarkeit des Auslegers.

Aus der Begegnung mit Gott resultierendes Vertrauen, das persönlich betrifft, und die Anerkennung einer formalen Autorität der Schrift schließen einander nicht aus. Im Blick auf die Basis des Glaubens sind das Vertrauen zu Jesus Christus und die Akzeptanz der Offenbarungsqualität der Schrift keine Alternativen. Beides läßt sich nicht voneinander trennen. Von der Offenbarungsqualität der Heiligen Schrift auszugehen, ist kein unwissenschaftlicher Deduktivismus, weil auch induktive Schlüsse von nicht hinterfragbaren Denkvoraussetzungen abhängen und genau wie deduktive Schlüsse bewährt werden müssen.

Geschichte ist der umfassendste Horizont christlicher Theologie. Geschichte ist das, was Gott mit der Menschheit und durch sie mit seiner ganzen Schöpfung hat. Es gibt im Sinn der Bibel keine profane, keine gott - los verlaufende Geschichte. Geschichte ist das zwischen Verheißung und Erfüllung hineingespannte Geschehen, das durch die Verheißung eine unumkehrbare Zielrichtung auf künftige Erfüllung hin erhält. Verheißung gibt dem anschließenden Ablauf historischer Ereignisse einen Zusammenhang, öffnet das Bewußtsein für den Fortgang und das Ziel des Geschehens und nötigt zur Beobachtung des Geschickes, das dieses Wort erfährt. Weil Gottes Handeln, durch das er seinen auf Erlösung und Vollendung zielenden Heilswillen verwirklicht, unausgrenzbar in die Gesamtgeschichte hineinverflochten ist, darum empfiehlt sich eine heilsgeschichtliche Auslegung der Schrift. Diese rechnet damit, nicht nur dem Geschichts- und Selbstverständnis der biblischen Zeugen, sondern dem sich in der Geschichte bezeugenden Gott selbst zu begegnen.

Gottes Offenbarung geschieht in der Geschichte. Da die Geschichte fortschreitet, schreitet auch die Offenbarung fort. Dabei sagt Gott in den verschiedenen Ordnungen der Heilsgeschichte nicht immer dasselbe. Er läßt eine Epoche so aus der anderen wachstümlich hervorgehen. Heilsgeschichtliche Schriftauslegung ist historische Auslegung. Göttliche Inspiration und historische Forschung schließen einander nämlich nicht aus. Richtig verstandene geschichtliche Forschung ist kein Gegner der Offenbarungstheologie, sondern ihre Folge. Die ganze Schöpfung wird miteinbezogen. Dadurch bleibt die Gesprächsfähigkeit mit anderen Wissenschaften erhalten.

Aufgrund der Berücksichtigung von Bundesschließungen, Ökonomien, Stadien, Lücken und Selektionen im Ablauf der Heilsgeschichte müssen die biblischen Texte nicht plan gelesen werden. Die Beachtung der Frage, wohin Texte der Bibel unterwegs sind, bzw. woher sie kommen, führt zu einer differenzierten Sicht, die biblische Texte jedoch nicht aussortiert, sondern in den Gesamtzusammenhang der Heilsgeschichte einordnet. Die Gewichtung von Texten erfolgt dabei nach innerbiblischen Maßstäben und nicht nach vorgefaßten und von außen an die Bibel herangetragenen Prinzipien. Ort und Zeit aller Schriftstellen können ernstgenommen werden. Der Ausleger muß nicht Schulmeister und Schiedsrichter für biblische Aussagen sein. Derselbe Jesus, der z.B. auf die Nähe des Gottesreiches hinwies, gründete auch die Kirche. Im dynamischen und kontingenten Fortgang der Heilsgeschichte kann jeder biblische Autor sein vollständiges Rederecht behalten.

Eine heilsgeschichtliche Schriftauslegung setzt nicht voraus, daß nur das von den alttestamentlichen Geboten für die Christenheit verbindlich ist, was davon auch im NT steht. Dadurch würde das AT überflüssig. Heilsgeschichtliche Schriftauslegung will durch die Wahrnehmung der ganzen Schrift Weiterentwicklungen im Fortgang der Offenbarung erkennen und keineswegs nur Restbestände des AT ins NT hinüberretten. Zwar liefert die Übernahme alttestamentlicher Weisung durch das NT einen Anhaltspunkt, aber die Richtung der Heilsgeschichte wird eher durch das Gegenteil, das nicht unbedingt dieselben Themen betreffen muß, erkennbar, nämlich durch das, was aus dem AT nicht ins NT übernommen wird.

Pfarrer Manfred Otto Heuchert, Dr. Harald Höger, Pfarrer Andreas Gripentrog