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eine Veröffentlichung der Arbeitsgemeinschaft Bekennender Christen in Österreich, September 1998

Hinweis: das ist die Kurzfassung. Es gibt auch eine Langfassung: Gedanken zur Auslegung der Heiligen Schrift (L).


1. Die Einheit von Wahrheit und Geschichte

Gottes Heilsgeschehen ereignet sich in Raum und Zeit. Gott läßt seine Wahrheit konkret werden in der Geschichte. Weil Gott auf dieser Welt gehandelt hat, darum reden Menschen von ihm und glauben an ihn. Gott gebraucht Ereignisse der Geschichte zum Transport seiner Offenbarung. Vom Heilshandeln Gottes in ihrer Lebensgeschichte ergriffene Menschen überliefern Gottes Offenbarung. Sie gebrauchen dabei ihre jeweilige Sprache, die Gott in seinen Dienst stellt und also für  die Übermittlung seiner Offenbarung keineswegs als nur eingeschränkt tauglich betrachtet. Dadurch geschieht Gottes Offenbarung nicht nur, sondern erhält mitten in Raum und Zeit auch Bestand und zwar in der konkreten Gestalt des biblischen Wortes.


2. Die Einheit von Offenbarung und Zeugnis der Offenbarung

Die Bibel ist nicht nur ein Zeugnis von der Offenbarung Gottes. Das Eigentliche der Bibel muß nicht hinter ihr gesucht werden. Denn die verkündigte und geschriebene Gestalt der Offenbarung sind genauso untrennbar miteinander verbunden wie Form und Inhalt des biblischen Wortes. Ein unveränderliches Wort Gottes als sogenannter Sachinhalt ist von seiner historischen Einkleidung nicht abzusetzen. Die überzeitliche Botschaft muß nicht aus ihrem zeitbedingten Rahmen erst herausgelöst werden. Die Bibel ist nicht nur Katalysator der Offenbarung, sondern göttliche Offenbarung selbst. Nur unter der unbewiesenen Behauptung, daß Gottes Offenbarung lediglich gebrochen in die Bibel eingehen konnte, muß das Zeugnis der Offenbarung von der Offenbarung unterschieden werden.     

Alle Bestandteile der Schrift lassen sich auf das Wirken Gottes zurückführen. Darum kommt das Wort Gottes in den Worten der Schrift. Was die Schrift sagt, sagt Gott. Die Trennung von Bibeltext und Inhalt dieses Textes ist auch deshalb unberechtigt, weil sie der Heiligen Schrift selbst fremd ist und von der Willkür menschlicher Analyse abhängt, die ein authentisches Offenbarungswort herausdestillieren soll. Wenn die Bibel Offenbarung lediglich enthält, ist am Ende immer und unausweichlich das subjektive Wahrheits- und Glaubensverständnis des Auslegers die begründende und regulierende Norm und Autorität dessen, was zu glauben ist. 

Die Gleichsetzung von Bibel und Wort Gottes darf jedoch nicht im Sinn einer umkehrbaren mathematischen Gleichung verstanden werden. Das Wort Gottes ist nicht die Bibel, denn Gottes Offenbarung ist umfassender als die Schrift. Aber die Bibel enthält nicht nur Gottes Offenbarung. Sie wird auch nicht erst in der Begegnung und durch die menschliche Annahme zur Offenbarung. Die Bibel sagt, was Gott sagt. Wenn die Bibel nur mehr menschlicher Bericht subjektiver Gotteserfahrungen sein darf, dann ist kaum mehr zu begründen, warum und in welcher Weise sie heute eine neue Begegnung mit Gott auslösen soll.


3. Die Einheit von Erniedrigung und Herrlichkeit Gottes

Die Menschwerdung des Gottessohnes und die Schriftwerdung der Offenbarung des Gottesgeistes entsprechen einander. Genauso wie der ewige Gottessohn sich in Jesus von Nazareth inkarniert, so erniedrigt und inverbiert sich der Heilige Geist im Wort der Heiligen Schrift. Es besteht eine Analogie zwischen der göttlich - menschlichen Wesensart Jesu und der göttlich - menschlichen Wesensart der Bibel.

Aber die Knechtsgestalt der Heiligen Schrift ist gerade ihre Herrlichkeit. In ihrer Niedrigkeit offenbart sich die Herrlichkeit der Herablassung Gottes, der anstößig für die menschliche Vernunft die Niedrigkeit menschlicher Worte erwählt, um genau damit der Welt sein göttliches Wort zu sagen. Gott tritt in der Knechtsgestalt des Sohnes, aber auch mit dem in der Schrift verkleideten, verhüllten göttlichen Wort vor die Welt, weil nur durch ein Werk der Demut und Herablassung Gottes, der Stolz des Menschen überwunden, und der Mensch für Gott gewonnen wird.


4. Die Einheit von Menschenwort und Gotteswort

Schriftverständnis und Christusverständnis hängen zusammen. So wie bei Jesus seine göttliche und menschliche Natur nicht auseinanderdividiert werden können, so haben sich bei der Gestaltwerdung der biblischen Offenbarung Gotteswort und Menschenwort grundsätzlich unlösbar ineinander verschlungen. Darum ist das Menschenwort der Bibel das Gotteswort in seiner Knechtsgestalt. Die durch den Heiligen Geist gestaltete und von Menschen verfaßte Schrift stellt sich deshalb als etwas Einheitliches und Ganzes dar. Wie Jesus Christus wahrer Gott und wahrer Mensch ist, aber nicht in zwei Personen zerlegbar, sondern indem er Gottes Sohn bleibt, so ist die Heilige Schrift Gotteswort und Menschenwort zugleich, aber nicht in zwei Worte zerlegbar, sondern indem sie Gottes Wort bleibt.

In der heilsgeschichtlichen Linie von Verheißung und Erfüllung ist Christus die ordnende Mitte der Heiligen Schrift. Gerade deshalb aber läßt sich diese Mitte nicht aus dem Ganzen der Schrift herausfiltern und isolieren, denn in irgendeinem Bezug zur Mitte steht jede Schriftstelle. Insofern kann sich die Mitte der Schrift nur der Wahr - nehmung der ganzen Schrift verdanken. In soteriologischer Hinsicht ist Christus von primärer und die Schrift von sekundärer Bedeutung. Aber in erkenntnistheoretischer Hinsicht ist die Schrift primär, denn ohne die Bibel wissen wir so gut wie nichts von Jesus. Die Mitte der Schrift läßt sich darum nicht als kritisches Skalpell anwenden, und auch Christus selbst gibt keinerlei Veranlassung zu solcher Zerlegung der Schrift.


5. Die Einheit von Menschlichkeit, Geschichtlichkeit und Inspiration

Die volle Menschlichkeit und Geschichtlichkeit des biblischen Wortes und seine Inspiration schließen einander nicht aus. Gott hat Menschen mit ihren Gaben und Eigenarten, aber auch mit ihren Beschränktheiten und Schwächen in einer jeweils ganz bestimmten geschichtlichen Situation seines Wirkens dazu erwählt und durch seinen Geist befähigt, sein Wort zu sagen. Das Menschliche und Geschichtliche an ihrem Wort wird von Gott gerade nicht ausgeschaltet, sondern bejaht und in seinen Dienst genommen.

Die Inspiration der biblischen Autoren ist nicht nur Personalinspiration, auch nicht nur Realinspiration, sondern als Verbalinspiration vor allem Ganzinspiration im Sinn einer Inverbation des Heiligen Geistes als Analogie der Inkarnation Christi. Solche Ganzinspiration ist auf den Urtext bezogen, darf nicht mechanisch als Diktatinspiration mißverstanden werden und führt deshalb auch nicht zu einer atomistischen Betrachtungsweise der Bibel. Ganzinspiration bedeutet nicht, daß jeder Text der Bibel das gleiche Gewicht hat. Sie schließt vielmehr die Bejahung fortschreitender Offenbarung ein. Die Ganzin-spiration bekräftigt lediglich, daß jedes Wort der Schrift vorhanden ist, weil Gott es gewollt hat. Ganzin-spiration meint, daß es gerade die konkrete biblische Offenbarung ist, die Gottes Geist geschaffen hat. Gottes Anrede ist eben nicht auch anderswo zu finden. Gottes Wort läßt sich darum nicht besser ausdrücken, als es in der Heiligen Schrift geschehen ist.

Weil die Schreiber der Bibel im Hinblick auf ihren Stoff und die Art und Weise, ihn darzubieten, inspiriert waren, darum sind ihre Schriften vollkommen verläßlich, verbindlich, wirksam, deutlich und ausreichend für die Wegweisung des Menschen zum rettenden Heil und zu einem erfüllten Leben. Eine direkte Folge der Inspiration ist die Klarheit der Schrift. Dunkelheiten liegen nicht im Bereich der Sache, sondern der Sprache und des kognitiven Verstehens. Die dunklen Stellen sind aus dem Vergleich mit den hellen zu deuten. Wenn man akzeptiert, daß die Bibel Gottes Wort ist, dann steht nicht die Frage im Mittelpunkt, wie wahrscheinlich die Lösung ist für Fragen, die angebliche Irrtümer der Bibel aufwerfen, sondern dann wird die Wahrscheinlichkeit der vorgeschlagenen Lösung gegen die Wahrscheinlichkeit abgewägt, daß Gott etwas Falsches gesagt hat. Die mangelnde Sichtbarkeit der Stimmigkeit von Bibeltexten spricht noch nicht automatisch gegen die Realität dieser Stimmigkeit.

Die Kanonisierung der biblischen Schriften ist als letzte Stufe der Inspiration anzusehen. Der Kanon ist kein Produkt der Kirche, sondern ein Produkt desselben göttlichen Geistes, der die einzelnen Schriften hervorgebracht hat. Insofern wurde der Kanon nicht von Menschenhand geschaffen, sondern nur von solcher anerkannt. Die Begründung der Schriftautorität geschieht durch die Schrift selbst. Konsequenz solcher Schriftautorität ist, daß die Schrift einzige norma normans (normierende Norm) sein will für das Hören auf Gott, für das Gehören zu Gott und den Gehorsam des Menschen gegenüber Gott. Die Kirche hat die Bibel entweder als ganzheitliche Richtschnur, oder sie hat überhaupt keine Richtschnur mehr. Wenn in der Bibel Menschen ohne Inspiration durch Gottes Geist reden, dann ist auch Christus keine wirkliche Autorität mehr.


6. Die Einheit von wissenschaftlicher Erforschung und Demut des Herzens

Der Einheit von Menschenwort und Gotteswort, bzw. der Einheit von Menschlichkeit, Geschichtlichkeit und Inspiration angemessen ist eine wissenschaftliche Erforschung der Heiligen Schrift, die in uneingeschränkter Offenheit sich müht, sowohl die Menschlichkeit, als auch die Göttlichkeit der Bibel zu erkennen, soweit beides eben erkennbar ist. Zur Bibel paßt nur eine Arbeit, die nicht mit einer von ganz anderen, ihr fremden oder gar gegensätzlichen Denkvoraussetzungen diktierten Methodik an sie herantritt.

Aus der Begegnung mit Gott resultierendes Vertrauen, das persönlich betrifft, und die Anerkennung einer formalen Autorität der Schrift schließen einander nicht aus. Im Blick auf die Basis des Glaubens sind das Vertrauen zu Jesus Christus und die Akzeptanz der Offenbarungsqualität der Schrift keine Alternativen. Beides läßt sich nicht voneinander trennen.

Wenn uneingeschränktes Vertrauen der Grundvorgang zwischen Mensch und Gott ist, dann steht methodische Mißtrauen in deutlichem Gegensatz zur Vertrauensbemühung der Offenbarung. Und das um so mehr, als die Schrift selbst nirgends dazu anleitet, Schrift mit Schrift abzulehnen. Sachkritik ist keine Auslegung mehr, weil sie die Aussagerichtung und den spezifischen Zweck eines Bibeltextes verändert. Wenn das Rederecht dessen, was als Offenbarung begegnet, aus prinzipiellen Gründen von vornherein eingeschränkt wird, muß aus der Begegnung automatisch eine Entgegnung werden.

Weil Gottes Handeln, durch das er seinen auf Erlösung und Vollendung zielenden Heilswillen verwirklicht, unausgrenzbar in die Gesamtgeschichte hineinverflochten ist, darum empfiehlt sich eine heilsgeschichtliche Auslegung der Schrift. So wie die Geschichte fortschreitet, schreitet auch die Offenbarung fort. Dabei sagt Gott in den verschiedenen Ordnungen der Heilsgeschichte nicht immer dasselbe. Er läßt eine Epoche wachstümlich aus der anderen hervorgehen. Heilsgeschichtliche Schriftauslegung ist historische Auslegung. Göttliche Inspiration schließt recht verstandene historische Forschung nämlich nicht aus, sondern verlangt geradezu nach ihr.

Heilsgeschichte Schriftauslegung liest biblische Texte nicht plan. Z.B. kann das vom AT nicht ins NT Übernommene als vom NT überholt betrachtet werden. Die Beachtung der Frage, wohin Texte der Bibel unterwegs sind, bzw. woher sie kommen, führt zu einer differenzierten Sicht, die biblische Texte jedoch nicht aussortiert, sondern in den Gesamtzusammenhang der Heilsgeschichte einordnet. Die Gewichtung von Texten erfolgt dabei nach innerbiblischen Maßstäben und nicht nach vorgefaßten und von außen an die Bibel herangetragenen Prinzipien. Ort und Zeit aller Schriftstellen können ernstgenommen werden. Der Ausleger muß nicht Schulmeister und Schiedsrichter für biblische Aussagen sein. Jeder biblische Autor kann sein vollständiges Rederecht behalten.


7. Die Einheit von Wort und Geist

Die Besonderheit der Heiligen Schrift ist ein Stück weit für jeden wahrnehmbar, der sich in Demut und Offenheit auf das biblische Wort einläßt. Zwar ist die Besonderheit der Schrift als Gottes Wort verhüllt, jedoch niemals bis zur Unkenntlichkeit. Sie ist in ihrer Verhüllung d.h. Niedrigkeit trotzdem als Gottes Wort wahrnehmbar, so wie auch Jesus in seiner ganz unmessianischen Verhüllung und Niedrigkeit trotzdem als Christus und Sohn Gottes wahrnehmbar war und ist. Und der Geist, der lebendig macht, wird darum nicht in der Loslösung vom Buchstaben gefunden, sondern nur in den „Lumpen“ toter Buchstaben, bei denen nicht ihr Ansehen, sondern der Gebrauch, der davon gemacht wird, entscheidend ist (Vgl. Jer. 38, 11-13).

Daß die Heilige Schrift einen Menschen so trifft, daß er in Gericht und Gnade das unverwechselbare Reden und Handeln Gottes an sich selber erfährt, das jedoch ist menschlicher Verfügbarkeit entzogen und ganz der Souveränität des Heiligen Geistes anheimgestellt. Der Geist verbindet sich mit dem Wort. Buchstabe und Geist sind nicht zu trennen. Der Heilige Geist ist nirgends gegenwärtiger und lebendiger als in seiner Heiligen Schrift. Doch daß diese lebendige, dynamische Einheit auch in der je eigenen geschichtlichen Situation wieder neu wahr und wirksam wird, das kann immer nur erbeten werden. So wie Christi Herrlichkeit eine durch das Kreuz verdeckte ist, so ergibt sich der Zugang zur Schrift nur über das Kreuz, das deutlich macht, daß auch die menschliche Vernunft erlösungsbedürftig ist und zum rechten Verständnis der Schrift wie z.B. bei der Bekehrung des Paulus erleuchtet werden muß.


8. Gedanken M. Luthers zur Auslegung der Heiligen Schrift

Die Heiligen Schrift ist „des heiligen geists eigen, sonderlich buch, schrift und wort.“ (WA 38, 340, 8 vgl. WA 54, 3.474)

„Denn nicht nur die Vokabeln, sondern auch die Diktion ist göttlich.“ (WA 40, III, 254)

„Die heilige Schrift ist Gottes Wort, geschrieben und (das ich so rede) gebuchstabet und im buchstaben gebildet, gleich wie Christus ist das ewige Gottes wort, in die Menschheit verhuellet.“ (WA 48, 31)

Die Schrift hat Autorität als „verbum Dei infallibile (unfehlbares Wort Gottes).“ (WA 2, 279)

„Denn wer ein eintzel Gottes wort veracht, der achtet freylich auch keines nicht gros.“ (WA 26, 450, 23)

Die menschlichen Schreiber des Wortes Gottes sind infolge ihrer Inspiriertheit „infallibiles doctores (unfehlbare Lehrer).“ (WA 40, I, 173f)

„Es muß unter Christen als vollkommen verbürgt und sicher gelten, daß die Heilige Schrift ein geistliches Licht ist, viel klarer als die Sonne selbst.“ (WA 18, 653)

„da erdenken sie ein new lugen, finden degen und spieß und der gleychen narrn werck und sprechen, die Schrift sey ßo finster, das wir sie nit mugen vorstehn ... Hatt der geyst in den vettern geredt. so hat er vil mehr yn seyner schrifft geredt. Und wer den geyst nit vorsteht yn syner eygen schrifft, wer wil glauben, das er yhn yn eyniß andern schrifft vorstehe?“ (WA 7, 638 vgl. 7, 639, 14ff

„Christus am creutze mit ale seynen leyden und todt, hilft nichts, wenns auch auffs aller brünstigest, hertzlichst erkant und bedacht wird. Es mus alles noch eyn anders seyn. Was denn? Das wort, das wort, hörestu lügen geyst auch, das wort thuts. Denn ob Christus tausentmal für uns gegeben und gecreutzigt würde, were es alles umbsonst, wenn nicht das wort Gottes keme, und teylets aus und schenket myrs und spreche, das soll deyn seyn, nym hyn und habe dyrs.“ (WA18, 202, 34ff)

„Das Wort allein, ist  Gefährt der Gnade Gottes.“ (WA 2, 509, 14f)

“Wie könnten wir Unbesonneneres und Vermesseneres tun, denn daß wir uns unterstehen, Gott und sein Wort zu richten, die wir von ihm sollten gerichtet werden? Darum soll man darauf schlicht stehen und beharren, daß, wenn wir hören, daß Gott etwas sagt, wir es glauben, und nicht darüber disputieren, sondern vielmehr unsere Vernunft gefangen nehmen unter den Gehorsam Christi ...” (Genesis Vorlesung zit. nach H. Feghelm (Hg.): Aussagen D. Martin Luthers zu Fragen der Auslegung der heiligen Schrift, in: Evangelium und Wissenschaft, Beiträge zum interdisziplinären Gespräch, Nr. 4/1981, S. 19)

“Daher ists ein offenkundiger Irrtum, daß mit solchem Worte “Es ist erlaubt, durch den eignen Geist die Schrift zu verstehen”, uns befohlen werde, wir sollten die heilige Schrift beiseit setzen und auf die Kommentare der Menschen uns richten und denen glauben. Diesen Verstand, sag ich, hat ohn Zweifel Satanas selbst aufgebracht, daß er uns damit von unsrer, d.h. der heiligen Schrift gar weit abbrächte und eine verzweifelte Kenntnis der Schrift uns machte. Wo doch jenes Wort weit eher also zu verstehen ist, die Schrift solle alleine durch den Geist verstanden werden, durch den sie geschrieben ist, welchen Geist du nirgends gegenwärtiger und lebendiger finden kannst, denn eben in seiner heiligen Schrift, die er geschrieben hat. So sollen wir denn danach trachten, nicht daß wir die Schrift beiseit setzen und uns auf die menschlichen Schriften der Väter richten, nein vielmehr zuerst sollen wir die Schriften aller Menschen beiseit setzen und allein an die heilige Schrift desto mehr und desto beharrlicher unsern Schweiß setzen, je gegenwärtiger die Gefahr ist, daß einer sie durch seinen eigenen Geist verstehe, auf daß der Brauch dieser beständigen Mühe solche Gefahr überwände und uns endlich des Geists der Schrift gewiß machte, der außer in der Schrift überhaupt nicht gefunden wird. ... Oder sag mir, wenn du´s vermagst: wer ist der Richter, durch den eine Frage zum Schlusse kommt, wenn die Aussprüche der Väter widereinander streiten? Denn hier muß man nach dem Richtspruch der Schrift das Urteil fällen, und das kann nicht geschehn, wo wir nicht den ersten Platz in allem, was den Vätern beigelegt wird, der Schrift geben, also daß sie selber durch sich selber sei die allergewisseste, die leichtest zugängliche, die allerverständlichste, die, die sich selber auslegt, die alle Worte aller bewährt, urteilt und erleuchtet, so wie es Ps. 119,130 heißt ... Da siehest du, daß die Wahrheit allein dem Haupt der Worte Gottes beigelegt wird, d.i. sofern du die Worte Gottes an erster Stelle gelernt und ihrer gleich als des ersten Prinzips gebraucht hast zum Urteil über aller Worte. Und was tut jener ganze Psalm anders, denn daß er die Verkehrtheit unsrer Mühe verdammt und uns zur Quelle zurückruft und lehrt, zuerst und allein sei an Gottes Wort Mühe zu setzen, der Geist aber wolle freiwillig kommen und unsern Geist austreiben, auf daß wir ohn Fahr Theologen seien?”  (Assertio omnium articulorum zit. in: E. Hirsch(Hg.): Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik 1964 S. 84+85).

Pfarrer Manfred Otto Heuchert, Dr. Harald Höger, Pfarrer Andreas Gripentrog