Im Bewusstsein der Verantwortung vor Gott und den Menschen
Die im Ökumenischen Rat der Kirchen vertretenen anerkannten Kirchen in Österreich haben dem Österreich - Konvent zur Neugestaltung der Bundesverfassung eine Stellungnahme übermittelt, die der Kommentierung bedarf.
In erstaunlicher Einmütigkeit verzichten die Vertreter der Kirche darauf, eine Präambel mit einen Gottesbezug vorzuschlagen. Wer sonst, wenn nicht die Kirchen, soll das jetzt noch einbringen? Wer von vornherein selbst auf diese Chance der Neugestaltung verzichtet, darf sich dann aber auch nicht wundern, wenn er in anderen Fragen grundsätzlicher Orientierung von staatlicher Seite immer weniger gehört wird.
Leider ist die kirchliche Stellungnahme allein schon wegen verwirrender Begrifflichkeit kaum Orientierungshilfe. Es wird von Werten, Grundwerten, Wertungsgrundsätzen, Grundrechtsverbürgungen, Prinzipien, Rechten, Menschenrechten, Freiheiten, Zielsetzungen und Staatszielen gesprochen, ohne dass klar wird, ob und wie diese miteinander zusammenhängen und welcher ethischen bzw. juristischen Ebene sie zuzuordnen sind. Mit einem zeitlosen Gottesbezug in einer Präambel im Sinn der Beschreibung eines klaren Verantwortungshorizontes wäre diese unverständliche, einer Verfassung nicht würdige Mischung von allgemeinen, grundsätzlichen und detailliert ausgeformten Bestimmungen vermeidbar gewesen. Dahinter steht die fehlende Unterscheidung zwischen den an einem ethischen Phänomen beteiligten Komponenten nämlich den Werten, Normen und Verhaltensmustern: Werte beschreiben die Lebensinhalte, Handlungsziel und Sinndeutungen in diesem Falle der Gesellschaft. Normen stellen sich dar als verbindliche Regeln zur Verhaltenssteuerung, die dann in Verhaltensmustern ihren Niederschlag finden meist in Form von festgelegten sozialen Handlungsabläufen. Werte sind die Grundlagen sozialer Normen. In den Normen werden Werte verwirklicht, und durch Verhaltensmuster werden sie in praktisches Handeln umgesetzt. Werte bezeichnen die Innenseite der Ethik, Verhaltensmuster ihre Außenseite. Und die Normen vermitteln zwischen diesen beiden Instanzen. Werte können durch Institutionen wie den Staat geschützt werden. Institutionen können aber keine Werte schaffen. Werte sind den Institutionen vorgegeben. Werte haben absoluten, überzeitlichen Charakter, während Normen und Verhaltensmuster wegen ihrer Bezogenheit auf konkrete Situation auslegungsbedürftig und wandelbar sind. Normen können durch Institutionen wie den Staat gesichert werden, wenn sie auch nicht in ihnen aufgehen. Verhaltensmuster sind institutionalisierbare Verhaltensweisen und werden darum auch durch Institutionen definiert.
Der Sinn eines Gottesbezug in einer Verfassungspräambel wäre nun, dass ein Staat genau die Vorgabe einer überzeitlichen Konstante erkennt und akzeptiert. Nicht mehr und nicht weniger. Der Österreich - Konvent muss sich nun leider fragen, was die Kirchen eigentlich wollen. Sie bewegen sich mit ihren Vorschlägen vornehmlich auf der Ebene der Normen und der Verhaltensmuster. Ob dies die Ebene der Verfassung ist, ist durchaus fraglich. Anstatt sich um die gesellschaftsunabhängige, nämlich vom christlichen Welt- und Menschenbild mögliche Herleitung und Begründung von Werten in der Verfassung zu kümmern, schweigt sie darüber und fordert die Institutionalisierung von Werten ein und möchte wandelbare Normen und Verhaltensweisen mit dem höchsten Grad der Verbindlichkeit versehen haben.
Ein Gottesbezug in einer Verfassungspräambel hätte den unschätzbaren Vorteil, den Staat daran beständig zu erinnern, dass er von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht schaffen kann, wie die Stellungnahme der Kirchen, wenn auch in anderem Zusammenhang, einmal richtig bemerkt. Und er würde den Staat davon entlasten, die Festlegung seines Verantwortungshorizontes ständig gesellschaftlichen Veränderungen anzupassen. Ohne Gottesbezug verlagert sich nämlich das Problem der Ausgrenzung von Minderheiten hinein in die wegen des permanenten gesellschaftlichen Wandels immer wieder notwendige neue inhaltliche Füllung von Grundwerten und Handlungszielen. Dadurch wären sogenannte Grundwerte aber genau das nicht, wofür sie stehen sollten, nämlich das bleibend Gültige.
Wer Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit in der Verfassung verankert sehen möchte, ohne deren Definition und Verständnis bereitzustellen, überfordert den Staat und verleitet ihn am Ende, diese inhaltlichen Füllungen selbst zu übernehmen und fördert unter Umständen damit seine Selbstverabsolutierung und Vergötzung. Ein Gottesbezug in einer Verfassungspräambel könnte das von vornherein ausschließen. Das ist ja sein eigentlicher Sinn.
Es geht ja nicht um eine christliche Vereinnahmung des Staates und auch nicht um die Diskriminierung anderer, nicht christlicher gesellschaftlicher Gruppierungen, sondern es geht um eine grundsätzliche Markierung, durch die der Staat seine Vorläufigkeit und Begrenztheit erkennt und akzeptiert. Vor allem wenn Opportunismus, Populismus sowie Demagogie aufkommen, und die Orientierungslosigkeit zunimmt, ist eine solche Markierung, und sei sie nur symbolischer Art, keineswegs so bedeutungslos, wie die kirchliche Stellungnahme offenbar annimmt.
Der Gottesbezug fände in eine Verfassungspräambel ja auch nicht Eingang im Sinn einer invocatio dei wie in der Präambel des austrofaschistischen Ständestaates von 1934, oder als Absicherung des privilegierten Status der Kirchen, sondern im Sinn der Beschreibung eines Verantwortungshorizontes. Verantwortung macht ja nur dann einen Sinn, wenn es ein Forum gibt, vor dem sie abzulegen ist, und von dem sie zugewiesen wurde. Wenn kein Ruf zu vernehmen war, macht auch Antwort letztlich keinen Sinn, jedenfalls keinen, der ohne Bedachtnahme auf bestimmte eigene Vorteile zu begründen wäre. Je höher eine Wort - und Antwortinstanz steht, desto weniger kann Verantwortung sich in bloßer Parteinahme für gesellschaftliche Interessensgruppen erschöpfen. Genau solch ein Verantwortungsbewusstsein stünde einem neutralen Staat gut an, und genau dafür könnte der Gottesbezug in einer Verfassungspräambel Signal der Orientierung sein. Im Vergleich dazu nimmt sich die Formulierung im Entwurf zur europäischen Verfassung „schöpfend aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen Europas“ schwach aus. Lediglich ganz allgemein wird über die historischen Wurzeln dieser Verfassung informiert, ohne dass deutlich wird, warum, inwiefern und wie grundlegend diese Traditionen für die europäische Verfassung von Bedeutung sind.
Dass die Aufnahme eines Gottesbezuges in Verfassungstexte entweder umgangen oder erst gar nicht in Betracht gezogen wird, ist ein Zeichen dafür, dass ein überindividueller Verantwortungshorizont in unserer postmodernen Zeit überhaupt nicht mehr existiert. Seit Friedrich Nietzsches Ansage des Todes Gottes ist dieser Horizont weggewischt. Das, woran man sich orientieren kann, was für alle Gültigkeit hat, gibt es nicht mehr. Orientierung ist nicht mehr möglich. Das Allgemeine, die für alle Individuen geltenden ethischen und weltanschaulichen Koordinaten, sind nicht mehr da. Sie sind jedenfalls nicht mehr als allgemeingültig erkennbar. Der Tod Gottes ist der Tod des Allgemeinen, des für alle gegebenen Horizontes. Zwar hat es das von allen Anerkannte sowieso nie gegeben, aber gerade indem Menschen früher noch darum gestritten haben, was denn allgemein gilt, was Wahrheit und d.h. für alle wahr ist, haben sie doch genau dieses Allgemeine, dieses Wahre, dieses Richtige an sich vorausgesetzt. Sie haben um einen Horizont gewusst, der sie umgrenzt und ihnen Orientierung gibt. Genau solchen Horizont aber kann man heute gar nicht mehr denken, und darum hält man auch seine Erwähnung in einer Verfassungspräambel für überflüssig bzw. unzumutbar. In der Postmoderne gibt es nur mehr individuelle, persönliche Wahrheiten. Eine übergreifende Wahrheit, die für alle gültige ethische und weltanschauliche Orientierung gibt, ist ausgeschlossen. Der fehlende Hinweis auf eine solche im Grundgesetz markiert somit die Kapitulation vor dem praktischen Atheismus der Postmoderne.
Seit Nietzsches Ansage des Todes Gottes ist sich jedes Individuum sein eigener Horizont. Verantwortung gegenüber einem Anspruch von außen wird als unverschämte Einmischung in die persönlichen Angelegenheiten aufgefasst. Das Absolutum ist das Individuum. Neu an diesem Begriff des Individuums ist, dass er nicht mehr im Gegenüber zum Allgemeinen gedacht wird. Ihm fehlt der Wider - Part. Wo es aber kein Gegenüber von Gott und Mensch, kein Verhältnis von Allgemeinem und Individuellem mehr gibt, da wird der Mensch zu Gott; da wird das Individuelle zur Verpflichtung, zur einzig möglichen, weil einzig bleibenden Zielsetzung. Da wird der Mensch sich selbst letzter Zweck; da wird das Individuelle zum Allgemeinen und Verfassungen sollen, wie in der kirchlichen Stellungnahme verlangt, überwiegend Individualrechte absichern. Dass Kirchenvertreter dem Staat gegenüber so stark gemäß dem Zeitgeist argumentieren, ohne es offenbar selbst zu merken, macht besonders betroffen.
Meinen die Kirchen wirklich, nur wenn sie auf die Berufung auf Gott verzichten, den Eindruck der Bevorzugung durch den Staat in der Verfassung und die Wiederholung des Missbrauchs, solcher Formulierungen, der den guten Gebrauch ja bekanntlich nicht aufhebt, vermeiden zu können? Und wie passt dazu, dass die Kirchen gleichzeitig vom Staat bestimmte Freiheiten und Rechte wie Religionsunterricht, die Führung von Privatschulen, staatlichen Beistand und einen regelmäßigen Dialog als Verfassungsbestimmungen garantiert bekommen möchten?Jedenfalls wäre die Einbringung eines Gottesbezuges eher dazu angetan, mit der kirchlichen Kernkompetenz in der Öffentlichkeit aufzutreten, als durch die Absicherung gesellschaftlicher Positionen und Interessen der Kirche. Außerdem wäre mit einem Gottesbezug in der Verfassung festgehalten, dass das Evangelium eine öffentliche Wahrheit ist, die alle angeht, ohne sie zu vereinnahmen. Oder gilt in den Kirchen bereits nicht mehr, dass die Verkündigung der Herrschaft Christi nicht in ihr Belieben gestellt ist, noch sein Kriterium darin hat, ob und inwieweit es der Befriedigung allgemeiner religiöser Bedürfnisse entgegenkommt? Eine Chance wurde vertan, der postmoderne Verneinung aller Wahrheiten, die sich selbst zu einer neuen Super - Wahrheit zu erheben droht, zu widersprechen. Ein Gottesbezug in einer Verfassungspräambel hätte gute Wegweisung sein können, die von Kirche und Staat wegweist und hinausweist auf den, von dem sowohl Kirche als auch Staat ihr Mandat empfangen haben.
Pfr. Lic. theol. Andreas Gripentrog,