Zusammenfassung des Vortrages von Pfr. Dr. Heiko Krimmer
ABCÖ-Tagung 28. 2. 98, Schladming
Das biblische Wort ist eine Kraft. In ihm ist Gottes Wirklichkeit und Wirken selbst. Gott hat sich gebunden an sein Wort. Deshalb ist unser erster Grundsatz: Gott redet hier. Das ist ein Bekenntnis. Wir können es nicht beweisen, aber wir können seine Kraftwirkung erweisen. Redet Gott zu mir? Das ist die Vorentscheidung, die ich treffen muss, bevor ich lese. Gehe ich aber so hinein, dann spricht Gott selbst zu mir. Bibeltreues Verstehen bedeutet ein Verstehen des Wortes in der Liebe.
1. Die Liebe liest genau.
Bibeltreues Verstehen ist am Wortlaut orientiert. Schlatter sagte: Vor allem anderen: Ich soll lesen, was dasteht. Dass hier Fragen bleiben, verhindert eine sklavische Bindung an „Kommas“ - aber im gesamten Text gibt es keine tief greifende Textunsicherheit. Bengel hat über 20.000 Textvariationen geprüft: Es gibt keine einzige Textstelle, die grundsätzlich im Zweifel blieb.
Die Lutherübersetzung ist ein Gottesgeschenk. Man muss nicht den griechischen und hebräischen Urtext lesen können, um die Bibel zu verstehen. Lassen wir uns von Theologen nicht einreden, wir verstünden nichts, weil wir den Wortlaut nicht haben. Wichtig ist ein zusammenklingendes Verstehen, ein eindringendes Mithören. Wenn ich die Einbindung missachte, komme ich zu einem falschen Verstehen. Wir können fragen: Was würde im Gesamtkontext fehlen, wenn dieser Text nicht dastünde? Was beleuchtet diesen Text, was ergänzt diesen Text? Das Blutverbot (Apg. 15) z. B. gilt im Zusammenleben von Heiden- und Judenchristen. Das gilt bis heute: Wir werden in Israel auch nicht die Blutwurst auspacken.
Die Bibel ist inspiriertes Wort, Geist-eingegeben, eine Fortsetzung der Inkarnation, der Fleischwerdung Gottes. Die Bibel ist die Krippe in der Gott bis heute den Menschen begegnet. Das ist staunende Anbetung: So tief beugt sich Gott herab, dass er eingeht in Papier und Druckerschwärze. Menschen haben geschrieben, getrieben vom Heiligen Geist. Paulus verfällt nicht in Trance und stellt danach fest, dass er vier Kapitel Römerbrief geschrieben hat. Menschen schreiben, in denen der Geist wohnt und sie gebraucht. Es gibt aber auch Stellen (Offenbarung), wo der Mensch selbst nicht beteiligt ist, sondern das schreibt, was ihm der Bote sagt. Menschen sind Werkzeuge mit ihrer Eigenart und Originalität, keine Briefträger, sondern beglaubigte Boten, die bezeugen aus eigenem Erleben. Bengel: Die Bibel ist ein Liebesbrief Gottes, geschrieben an dich.
2. Die Liebe liest konkret.
Ein Liebesbrief ist keine theoretische Abhandlung, sondern persönlich. Das Wort Gottes ist nicht zeitlose, sondern zeitmächtige Wahrheit. Das „Wort Gottes ist geschichtlich" bedeutet: Das „Wort Gottes schafft Geschichte". Sein Reden geht ein ins Herz, verändert Situation, schafft und wirkt und ist persönlich ausgerichtet: Der Glaube kommt aus der Predigt, die Predigt aber aus dem Wort Christi. Wollen wir unserem Herrn begegnen, geht das über das biblische Wort. Wo es gepredigt wird, entfaltet es auch seine andere Wirkung - die der Verstockung - wenn ich das Wort höre und es nicht an mich heranlasse. Das ist kein Schicksal, sondern das Sich-Verschließen gegen den Anspruch, den das Wort an mich stellt und es so nicht zum Tun wird.
Das „Wort Gottes ist geschichtlich" bedeutet auch: Es ist in bestimmte geschichtliche Situationen hinein gesagt. Das gehört zum Verstehen dazu, wobei gilt: Nicht Traditionen schaffen Geschichte, sondern Geschichte schafft Traditionen. Historische Fragen im Umfeld der Bibel bleiben offen. Die Evangelien sind nicht vollständige Biografien Jesu
(Jo 20, etc), sondern „diese sind geschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus Christus ist der Sohn Gottes". Es ist nicht Aufgabe der Bibel, alles zu klären, sondern entscheidend ist, dass Gott geschaffen und gehandelt hat - das bezeugt die Bibel. Historische Genauigkeit ist bei Lukas am besten, Matthäus berichtet aus einer persönlichen Betroffenheit; die Berichte sind ergänzend zu lesen, aber was berichtet ist, ist genau und hat bleibende Bedeutung. Über Jesus ist vieles nicht berichtet, und Paulus hat noch viel mehr geschrieben. Was aber geschrieben ist, ist verbindliche Richtlinie.
Weitersagen des Wortes Gottes ist mehr als Wiederholung. Die heutige geschichtliche Situation ist neu zu erfassen und das Wort neu hineinzusagen in seiner bleibenden Bedeutung - so, dass es in seiner Grundlinie verbindlich bleibt. Wenn z. B. Paulus über das Götzenopferfleisch schreibt, gibt er eine Grundlinie vor: Ihr seid befreit und könnt es genießen. Vieles heute hängt eng mit Welt zusammen - wir Christen dürfen sie nehmen unter Danksagung. Wenn ich aber über Homosexualität heute spreche, kann ich den biblischen Befund nicht einfach umdrehen. Ich kann nicht gegen die Grundlinie argumentieren. Dass Paulus heute anderes sagen würde, ist reine Fiktion.
Einige grundsätzliche Leitlinien für das Verständnis alttestamentlicher Gesetze:
- Alles, was im NT wiederholt ist, ist für Gemeinde verbindlich (Sabbatgebot nicht wiederholt!) - Alle Gebote, die Israel als Volk gelten, sind nicht verbindlich.
- Alle, die Israel als Land betreffen, sind nicht verbindlich.
- Alle, die den Kult am Tempel betreffen, sind nicht verbindlich.
Diese Gebote sind aber heute nicht wertlos, sondern haben Beispiel- und Vorbildcharakter. Bei all den Fragen, wie sich Israel sich von Völkern unterscheiden soll, stellt sich uns die Frage: Wie unterscheiden wir uns als Christen von der Welt? Beispiel der Neuverteilung von Land im Sabbatjahr: In Israel konnten keine riesigen sozialen Unterschiede entstehen.
Gott hat auf viele Weise geredet, endgültig durch den Sohn (Hebr. 1). Jesus zeigt in der Bergpredigt, was das Gebot im Tiefsten will: Aufdecken, wer ich eigentlich bin. Nicht um das „Noch-mehr-Anstrengen" geht es, sondern um das Erkennen der eigenen Bedürftigkeit, dass der Geist Gottes in mir wirkt.
3. Die Liebe begegnet dem Geliebten.
,,Was Christum treibet" ist kein Sortierprinzip sondern ein Richtungsweiser - das biblische Wort führt hin auf den Christus. Am Geliebten ist alles wichtig, auch die Nebensätze. Wenn die Bibel Gottes Wort bloß „enthält", ist es ein Steinbruch, in dem ich die Goldader finden muss - doch jeder kommt zu einer anderen Auffassung - es gibt keine Übereinstimmung, was nun wirklich , jesuanisch" sei. Das macht verständlich, warum wir, die wir die Bibel als Ganzes verbindlich nehmen, von anderen angegriffen werden: Man unterstellt uns, wir böten den Leuten Steine und nicht Gold. Wenn ich als Sortierprinzip „was Christum treibet" oder „Liebe" nehme, fällt vieles weg. Man kann aber die Bibel auswendig kennen, und doch verloren gehen.
4. Das biblische Wort ist Verheißungswort
„Sein Wort bleibt in Ewigkeit." Die Verheißung des Landes erfüllt bei Abraham, später bei Mose, nach der babylonischen Gefangenschaft und in diesem Jahrhundert - und noch wartet der neue Himmel und die neue Erde. Insofern sind alle Verheißungen Teilerfüllung, die die endgültige Erfüllung in der Ewigkeit findet. Wer jetzt und hier mit diesem Wort lebt, ist hinein genommen in die Ewigkeit.
Wo das kindliche Vertrauen da ist, entfaltet das Wort seine Kraft, wo wir unsere Sortierprinzipien vorschalten, brechen wir unserer Waffe die Spitze und machen sie stumpf.